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Konflikt bedeutet nicht gleich Krise, aber keine Krise ohne Konflikt

Aktualisiert: 2. Juni

Die Termini “Krise” und “Konflikt” werden, besonders in der Alltagssprache, oft vertauscht oder synonym verwendet. Konflikt kann durchaus ohne Krise stattfinden, eine Krise jedoch nie ohne Konflikt. In der Friedens- und Konfliktforschung ist es unerlässlich eine konkrete Abgrenzung vorzunehmen. John Paul Lederach (1993: 33), einer der Gründerväter der Friedens- und Konfliktforschung, ist davon überzeugt, dass häufig die verwendete Sprache der Theoretiker:innen und Praktiker:innen in diesem Feld, aber auch darüber hinaus, nachhaltige Lösungsfindungen bis heute verhindert. Dies ist auf unpräzise Definitionen zurückzuführen, (Mis)Verständnisse oder (Mis)Interpretationen. Dem Anspruch zu folgen, genaue Definitionen und Unterscheidungen zu entwickeln, trägt dazu bei, Phänomene greifbar zu machen und Muster sowie die Wurzel von Problemen identifizieren zu können. Hierbei handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess. Das Ziel dieses Essays ist es, einfach und kompakt, signifikante und grundsätzliche Unterschiede von Krise und Konflikt zu beleuchten. Außerdem soll die Wichtigkeit eines akkuraten Sprachgebrauchs für eine erfolgreiche Friedenskultivierung deutlich gemacht werden.


Konflikte können in unterschiedlichster Form auftreten. Es gibt eine große Vielfalt, die von politischen Konflikten, über strukturelle Konflikte, Umweltkonflikte, ethnische und religiöse Konflikte bis zu Geschlechterkonflikten reicht, um nur einige Konfliktarten zu nennen. Nichtsdestotrotz fallen diese verschiedenen Bereiche meist in die Kategorie des sozialen Konflikts – Konflikt zwischen Menschen; Menschen als Akteure -, oder können zumindest nicht unabhängig davon auftreten. Angesichts dieser Betrachtungsweise, soll ein neutrales Verständnis von Konflikt herausgearbeitet werden. Grundsätzlich geht es bei sozialem Konflikt um das Begreifen von Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen. Sozialer Konflikt beinhalten sowohl eine interpersonelle Dimension als auch eine intrapersonelle (Rollenkonflikt, Identitätskonflikt, Gewissenskonflikt etc.). Im heutigen Sprachgebrauch wird Konflikt überwiegend als negatives Ereignis gesehen. In seiner Essenz ist er jedoch nicht mehr als eine Unterbrechung des Status Quo einer Beziehung - entweder zu sich selbst oder zu anderen. Stellen Sie sich vor, Sie spazieren am Gehsteig und werden von einer anderen Person angerempelt. Unabhängig davon ob absichtlich oder unabsichtlich, eine Konfrontation zwischen zwei Personen findet statt. Sie werden kurz-, mittel- oder langfristig auf Ihrem Weg "unterbrochen" (je nach Intensität der Konfrontation und Ihrer Verfassung). Somit kann der geschaffene Konflikt als Zeitraum gesehen werden kann, in dem auf eine Konfrontation reagiert werden muss, um wieder einen reibungslosen Fluss herzustellen.


Je mehr Parteien involviert sind, desto schwieriger wird die Interaktion und der Austausch zwischen diesen. Im schlimmsten Fall entsteht eine (Gesprächs-)Beziehungsblockade zwischen den Konfliktparteien. Wenn keine Interaktion zwischen den Parteien stattfindet und der Konflikt in der Stille versinkt, ist es beinahe unmöglich gemeinsame Lösungen zu finden. In sozialem Konflikt zwischen mindestens zwei Individuen wird Reflexion, aktives Zuhören und Perspektivenwechsel zur Herausforderung. Diese Fähigkeiten sind jedoch erforderlich, um die Handlung des Gegenübers zu verstehen, damit angemessen auf die soziale Konfrontation reagiert werden kann. Letztlich hinterlässt Konflikt Spuren in der menschlichen Psyche und wirkt sich dadurch auf unser physisches Wohlbefinden aus.


Georg Simmel (1995) beschreibt Konflikt als eine Konfrontation zwischen mindestens zwei (gegensätzlichen) Parteien, welche miteinander interagieren. Der Soziologe und Philosoph unterstreicht die positive Rolle von Konflikt. Zudem schlägt Simmel vor, dass Konflikt entweder durch das Nachgeben einer Partei, durch das Finden eines Kompromisses bzw. Konsens oder durch eine Versöhnung transformiert werden kann.


Sozialpsychologe Morton Deutsch (1973: 17) argumentiert sogar gegen Konfliktprävention per se. Stattdessen plädiert er dafür, Konflikt als produktive Quelle zu sehen, welche für positive Veränderungen genutzt werden kann. Hierbei hängt eine negative oder positive Transformation des Konflikts von der Fähigkeit der Konfliktparteien ab, mit der Konfliktsituation und dem Gegenüber umzugehen (Vgl. Deutsch 1991: 27 f.). Dies zeigt, dass die Entwicklung von Konfliktmanagement-Fähigkeiten ausschlaggebend für einen friedvollen Umgang miteinander ist.


Konflikt als Quelle für Veränderung, kann am besten von einer holistischen Perspektive begriffen werden. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass auch Friede nicht als stillstehendes Phänomen gedacht werden kann. Nach Ho-Won Jeong (2017: 30) sind Konflikt und Friede Energiequellen. Beide sind dynamische und fortwährende Prozesse.


Lederach (1995: 33) spricht sich für eine radikale Veränderung des Verständnisses von Frieden und Konflikt aus. Sie sind weder ein “Ende” noch ein “stagnierender Zustand”. Er schreibt, “wenn wir sie [Friede und Konflikt] so behandeln und danach streben diese still zu legen oder zu kontrollieren, dann zerstören wir ihre wahre Essenz.”


Daher ist ein Doktrinwechsel von einer negativen Assoziation von Konflikt zu einem neutralen Ereignis erforderlich. Konflikt in seinem Kern

… ist ein natürlicher Teil der menschlichen Erfahrung. Auf der anderen Seite, folgt diese Erfahrung der Idee, dass Leben Konflikt schafft. So wie das pulsierende Herz des Körpers für einen rhythmischen Blutfluss sorgt, der uns am Leben und in Bewegung hält. Konflikt strömt aus Leben … Anstatt Konflikt als Gefahr zu sehen, kann er als chancen-gebende Quelle verstanden werden, um zu wachsen, indem wir ein Selbstverständnis, ein Verständnis von anderen und den kreierten sozialen Strukturen erlangen. … Ein Weg um unsere wahre Menschlichkeit zu begreifen ist das Geschenk des Konflikts in unserem Leben. Ohne diesen würde das Leben eine monotone flache Topographie von Gleichheit sein und unsere Beziehungen bedauerlich oberflächlich. Konflikt schafft aber auch Leben. Durch Konflikt reagieren wir innovativ und verändern. Konflikt kann als Motor für Veränderung gesehen werden, der uns ermächtigt Beziehung und soziale Strukturen ehrlich zu halten, lebendig und dynamisch reaktiv, um auf menschliche Bedürfnisse, Ziele und Wachstum eingehen zu können (Lederach 2003: 18).


Nach Lederach’s Verständnis ist Konflikt in seiner reinsten Form neutral, weder positiv noch negativ. Um Konflikt als Chance oder sogar als etwas Positives sehen zu können, denke ich, dass die Sichtweise mit der wir sozialen Konflikt betrachten genauso neutral oder sogar positiv sein muss. Erst dann können wir die Angst davor verlieren bzw. ihrer Entstehung vorbeugen. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, Konflikt als (Re)Aktionsraum und -Zeit nach einer Unterbrechung des Status Quo zu sehen, die durch eine Konfrontation erfolgen kann und die sich interpersonell und/oder intrapersonell auswirkt; unabhängig von der Intention und Interpretation der Unterbrechung oder der Konfrontation. Dass die Folgen durchaus negativ sein können und in der Realität oftmals sind, streitet dieses Verständnis in geringster Weise ab. Die Aufgabe besteht darin, Konflikt so zu regulieren, dass er zu keiner gewalttätige Stufe übergeht, sondern eine gewaltfreie Form beibehält oder zu solch einer transformiert wird. Vor allem aber, wäre ohne Konflikt kein Leben und auch kein Wachstum möglich. Konflikt kann als “transformierende Kraft für eine Systemänderung” gesehen werden (Lederach 1995: 18). Aufbauend auf diesem Verständnis, folgt eine Erklärung von Krise.


Wenn Konflikt nun Leben schafft und ohne Leben kein Konflikt möglich ist, was hat es mit dem Begriff Krise auf sich? Wie bereits gesagt kann Konflikt mehrere Formen annehmen, deshalb hebe ich die Verwendung des Begriffs Konflikttransformation anstatt Konfliktlösung hervor – auch wenn Konfliktlösung in Konflikten, bei denen nicht die Beziehung im Vordergrund steht durchaus ihre Legitimität hat. Der Grund dafür ist folgender: Konfliktlösung nimmt an, dass Konflikt kein kontinuierlicher dynamischer Prozess ist, ersterer hingegen schon. Basierend auf Lederach zielt Konfliktlösung darauf ab einen unerwünschten Zustand zu beenden. Im Vergleich bezweckt Konflikttransformation dasselbe, jedoch wird gleichzeitig versucht einen gewünschten Zustand zu schaffen. Hierbei schlage ich vor, Krise als eine prekäre Phase oder Stufe von Konflikt zu verstehen. Der Begriff an sich ist nicht direkt mit Gewalt verknüpft, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie eintritt ist höher als in einem früheren Stadium von Konflikt z.B. bei der ursprünglichen Konfrontation und Unterbrechung des Status Quo. Eine Krise muss nicht rein physischer Art sein, kann sie zumal gar nicht, weil die mentale Sphäre der Konfliktparteien in einem sozialen Konflikt immer eine Rolle spielt. Die Problematik liegt im alltäglichen Verständnis von Konflikt und Krise. Wäre die Abgrenzung klar, könnte der Begriff „Krise“ konstruktiver und zu einer spezifischeren Beschreibung eines Konflikts eingesetzt werden. So lange allerdings kein Konsens darüber besteht, ist die Gefahr groß, dass aneinander vorbeigeredet wird und bei der Verwendung von Krise eigentlich über Konflikt gesprochen wird; umgekehrt ist dies weniger gravierend, da wie bereits erwähnt, jede Krise zugleich ein Konflikt darstellt. Dies führt dazu, dass die eigentliche Wurzel des unterliegenden Konflikts nicht identifiziert werden kann und eine positive Konflikttransformation unterbleibt. Zusätzlich bedarf es einer Konkretisierung von Krisentypen, aber auch den jeweiligen Stufen. Diese Unklarheit kann ebenfalls zu Missverständnissen führen.


Ich möchte folgende These aufstellen: ganz egal ob wir schwierigere Stufen von Konflikt nun Krise nennen oder nicht, das Sprichwort “Aus einer Krise gestärkt hervorgehen” hat einen großen Wahrheitsgehalt. Je tiefer wir uns in einer schwierigen oder gewalttätigen Phase eines Konflikts befinden, diesen aber, auf welche Art und Weise auch immer, konstruktiv überwinden bzw. transformieren können, desto mehr Wissen über den Konflikt, soziale Beziehungen und uns selbst können wir gewinnen. Trotzdem kann es passieren, dass der Glaube besteht, nichts von einer Krise mitgenommen zu haben oder davon profitieren zu können. In diesem Fall ist zu hinterfragen, ob die Person sich nicht inmitten einer Krisenphase eines Konflikts befindet. Hierbei besteht die Schwierigkeit darin, sich diese Frage selbst ehrlich zu beantworten. Und ist es nicht die Selbsterkenntnis, die den ersten Schritt zur Besserung – eine gewaltfreie und positive Konflikttransformation zum eigenen Wohl und zum Wohl einer sozialen Gesellschaft – erlaubt?


Zusammenfassend ist demnach Konflikt als Reaktionsraum und -Zeit nach einer Konfrontation bzw. Unterbrechung des Status Quo einer intrapersonellen oder interpersonelle Beziehung zu sehen. Hierbei kann Konflikt verschiedene Formen und Stufen annehmen. Zudem ist Konflikt ein dynamischer Prozess, ein Motor für Veränderung und unabdingbar für Wachstum/Weiterentwicklung. Außerdem ist der Begriff “Konflikttransformation” in Bezug auf sozialen Konflikt mit Fokus auf Beziehungen geeigneter als “Konfliktlösung”, denn bei Konflikt handelt es sich in seiner Essenz um ein neutrales Ereignis, das durch eine Konfrontation zwischen mindestens zwei Parteien, eine Reaktion bzw. eine bewusste Aktion erfordert. Krise kann nicht ohne Konflikt aufkommen und soll daher als schwierigeres Konfliktstadium gesehen werden. Daraus folgt eine These, welche allerdings genauere Untersuchungen bedarf: Je schwieriger ein Konflikt oder je tiefer eine Krise ist, und ein Individuum oder eine Gruppe es vermag diese zum Besseren zu transformieren oder zu überwinden, desto mehr trägt dieser Prozess dazu bei, ein größeres Selbstverständnis, Verständnis von Beziehungen und Verständnis des Konflikts zu schaffen, die einen zukünftigen friedlichen Umgang mit Konflikten ermöglicht.


Es sind akkurate Definitionen und die Verwendung der Sprache, die es uns ermöglichen, die Phänomene Leben und Konflikt, welche sich bedingen, besser greifbar zu machen. Eine ständige linguistische Anpassung ist erforderlich, damit auf die Permanenz der Veränderung friedlich reagiert werden kann. Wenn wir Konflikt und Krise nicht mehr per se als negative Ereignisse verstehen, dann können wir sie als (positive) Herausforderungen und Chancen sehen, und vor allem als solche nutzen.


Referenzen

Deutsch, Morton (1973) The Resolution of Conflict: Constructive and Destructive Processes. New Haven, CT: Yale University Press.

Jeong, Ho-Won (2017) Peace and Conflict Studies. An Introduction. 2nd Edition. NY: Routledge.

Lederach, John Paul (2003) The Little Book of Conflict Transformation: Clear Articulation of the Guiding Principles by a Pioneer in the Field. Intercourse, PA: Good Books.

Simmel, Georg (1995) Conflict and the Web of Group-Affiliations. NY: The Free Press.

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